Ist Grahams „Intelligent Investieren“ immer noch relevant?

Wer mein Blog schon länger verfolgt, hat bemerkt, dass ich in den letzten Jahren immer mehr Finanzthemen behandelt habe. Jahrelang hatte ich einem MLP-Finanzberater vertraut, und auch wenn ich dadurch viele Dinge erst richtig aufgestellt hatte, kam in den letzten Jahren immer mehr ein Unwohlsein auf, dass er einem nicht die ganze Wahrheit erzählt. Letztes Jahr habe ich mich von ihm und MLP getrennt, nachdem mir das ständige Geschwafel, wie toll ein Fonds-Manager seinen Job mache und seine 2,4% Aufschlag wert sei, zu sehr auf den Keks ging. Eine Beratung durch einen unabhängigen Honorarberater (Vorsicht: viele sagen, sie seien unabhängig, aber die tatsächlich unabhängigen Berater bekommen ein Honorar vom Klienten, nicht eine Provision von einer Versicherung) hatte dann ergeben, wie sehr zu meinem Nachteil meine Finanzangelegenheiten geregelt wurden. Darüber werde ich noch mal mehr schreiben, aber heute geht es um einen Teilbereich, nämlich Aktien, Fonds, ETFs. Und ich bedaure es sehr, dass ich Grahams Buch nicht schon viel früher gelesen habe.

Als ich ein Kind war, fand ich die Tageszeitung mit ihren täglichen Börsentabellen enorm spannend. Nicht, dass ich irgendeine Ahnung von Aktien gehabt hätte oder mir jemand aus der Familie alles erklären konnte. Aber so schaute ich mir jeden Tag die Kurse der Unternehmen an, die ich kannte und dachte mir, dass das bestimmt irgendwie wichtig sei. Während des Studiums wurde ich MLP-Kunde und vertraute einfach, dass die schon wissen, was ich mit meinem damals wenigen Geld anfangen soll. Meine ersten Versuche unabhängig von MLP hatte ich vor ein paar Jahren mit RoboAdvisor-Angeboten wie Scalable Capital, Growney etc gemacht, davon halte ich nichts mehr. Immer wieder hatte ich zwischendurch auch mal Aktien gekauft, aber eher naiv. Dabei hatte ich mal Glück (mit meinen Apple-Aktien aus den 90ern habe ich mein Bafög zurückgezahlt… wobei, hätte ich sie behalten, dann… nun ja…), aber auch Pech (Ex-Friends & Family-Programm von Lycos Europe). Und dabei habe ich manchmal die Fehler gemacht, die Graham in seinem Buch beschreibt.

Benjamin Graham - The Intelligent Investor

Benjamin Graham wurde 1894 geboren und starb 1976, war also weit entfernt von den gegenwärtigen Möglichkeiten mit Echtzeitkursen, KI-Modellen usw., hatte dafür aber auch mehrere Crashs miterlebt. Er war Lehrer von Warren Buffet und hat die Grundlagen der Wertpapieranalyse geschaffen. Sein Standardwerk The Intelligent Investor (auf Deutsch Intelligent investieren) wurde 1949 in erster Auflage veröffentlicht und wird immer noch mit aktuellen Kommentaren neu aufgelegt; das Vorwort der aktuellen Ausgabe mit 550 Seiten hat Buffet geschrieben. Graham selbst hatte das Buch vor seinem Tod immer wieder mit Bezug auf die Geschehnisse an der Börse in diesen Jahren aktualisiert. Die Sprache, zumindest in meiner englischen Originalausgabe, ist nicht mehr unbedingt zeitgemäß, die heutige Relevanz wird aber durch die wertvollen Kommentare nach jedem Kapitel deutlich.

Durch das Buch, aber auch durch die Stories von Helmut Jonen, habe ich immer mehr den Unterschied verstanden, dass die meisten an der Börse eher nur spekulieren, d.h. sie hoffen, dass sie Aktien günstig kaufen und für ein Vielfaches verkaufen können, anstatt zu investieren, sich also tatsächlich als Anteilseigner an einem Unternehmen zu sehen. Grahams Ansatz nennt sich Value Investing, d.h., man sucht sich Unternehmen, an die man glaubt, weil man sich sorgfältig informiert hat und das Unternehmen und sein Geschäftsmodell versteht und idealerweise auch den Wert einschätzen kann. Das steht im Gegensatz zu den populären SUHR-Ansätzen (schnell und hektisch reich), wo man glaubt, mit Krypto oder einer obskuren Aktie schnell Millionär werden zu können. Graham (wie auch andere Value Investoren) kaufen zum Beispiel Aktien von Unternehmen, deren Aktienkurs unter dem Buchwert liegen. Hat ein schuldenfreies Unternehmen also Werte von 100 Millionen Euro, der Börsenwert liegt aber bei 80 Millionen, dann kann man sozusagen 1 Euro für 0,80 Euro kaufen. Selbst wenn die Firma pleite ginge, die Werte würden immer noch das Investment decken. Solche Werte sind nicht einfach zu entdecken, auch wenn man natürlich das Kurs-Buch-Verhältnis (KBV) nachsehen kann. Da steht in Deutschland zum Beispiel gerade ThyssenKrupp und Hornbach mit einem KBV von unter 1 ganz oben auf der Liste, aber offensichtlich ist das KBV nicht der einzige KPI, den man sich anschauen sollte.

Ein Investment wird immer langfristig gesehen. Als Investor muss man es aushalten können, dass der Kurs auch mal nach unten geht. 20%, 30% oder sogar 50% Verlust, auch wenn er nicht realisiert ist, können einen nervös machen. Grahams wichtigste Botschaft ist, und ich hoffe, dass er mir diese knappe Zusammenfassung verzeiht, dass Investoren nicht versuchen sollten den Markt zu schlagen, sondern die eigenen Emotionen. Denn, und das habe ich früher zum Teil auch getan, viele Börsen-Neulinge kaufen teuer, wenn alle schon von einem neuen Trend wissen und sie dann auch noch aufspringen wollen (FOMO), und verkaufen panisch, wenn die Aktie dann runter geht, weil sie ihr Geld retten wollen. Wer heute noch Nvidia-Aktien kauft, weil KI die Zukunft ist, nun ja: Vor 5 Jahren war das eine gute Idee, dann hätte sich die investierte Summe mehr als verzehnfacht, aber mittlerweile hat die Aktie ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von über 50 und ist damit sehr teuer. Ein großartiges Unternehmen ist keine großartige Investition, wenn man zu viel für die Aktie bezahlt.

Die Emotionen an der Börse, so Graham, sind übertrieben. Entweder in die eine oder in die andere Richtung. Aktien werden über- oder unterbewertet, vor allem aus emotionalen Gründen, nicht weil der Markt am besten weiß, was der beste Preis für eine Aktie ist. Klar ist KI ein Trend. Das waren Airlines in den 50er und 60er Jahren auch, wie Graham schreibt. Aber nur weil damals das Fliegen für viele plötzlich möglich und die Wachstumsraten dieser Industrie gigantisch waren, bedeutete das nicht, dass es für Investoren auch ein gutes Geschäft war. Tatsächlich haben die Airline-Aktien seit der Popularisierung des Fliegens den Investoren keine Freude gemacht.

Mein Berufsleben nach dem Studium begann in der New Economy, der Dotcom-Blase, in der wir dachten, dass sich nun alles ändern würde durch das Internet und die old Economy obsolet würde. Auch das war ein Wachstumsmarkt. Aber waren die meisten Firmen profitabel? Nein. Die aktuelle Ausgabe von Intelligent Investieren enthält Kommentare von Jason Zweig, die kurz nach dem Platzen der DotCom-Blase entstanden sind. Hier sind genug weitere Beispiele, wie überbewertet Aktien waren, nur weil alle noch auf den Zug aufspringen wollten. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Senioren Technologie-Fonds in der Sparkasse angedreht wurden, die eine „ganz sichere Sache seien“. Am Ende hat nur die Bank verdient. Und die Kinder und Enkelkinder wunderten sich, wo das Geld geblieben war.

Value Investing bedeutet, dass man sich auch „langweilige“ Werte wie Konsumgüter anschaut. Lebensmittel, Zahnpasta, Rasierklingen, all das wird gekauft und verbraucht und dann wieder neu gekauft. Es ist unwahrscheinlich, dass wir uns morgen nicht mehr die Zähne putzen. Unilever klingt nicht so geil wie Nvidia, ich weiß. Dasselbe gilt für den Pharma-Bereich. Wir werden älter, und die Frage ist nicht, ob wir irgendwann im Laufe eines langen Lebens Krebs bekommen, sondern wann. Würde ich gerade in Novo Nordisk investieren? Nein, durch Ozempic ist die Aktie das Nvidia der Pharma. Aber andere Werte sind vergleichsweise günstig. Natürlich klingt Abbvie mit seiner Neurodermitis-Forschung nicht so spannend wie ein Mittel gegen überflüssige Pfunde.

Graham hat drei Kriterien formuliert für die Auswahl von Aktien:

  1. Angemessene Diversifikation: Mindestens zehn, maximal dreißig verschiedene Anlagen (die Zahl dreißig ist hier genau so mit Vorsicht zu genießen wie seine Empfehlung, dass 100 minus das eigene Lebensalter der Anteil des Vermögens in Aktien sein soll)
  2. Unternehmen sollten groß, bekannt und konservativ finanziert sein.
  3. Lange Historie kontinuierlicher Dividendenzahlungen bei jedem Unternehmen.

Sicherlich ist es für die meisten Anleger sinnvoller, genau dies durch einen ETF abzudecken, um nicht selbst die Zeit für Recherche zu investieren. Graham verweist außerdem darauf, dass Unternehmen Dividenden auszahlen sollten; ein ganzes Kapitel wird darauf verwendet, dass das Management eines Unternehmens nicht unbedingt besser weiß mit den Gewinnen umzugehen, wenn keine oder eine geringe Dividende gezahlt wird. Und das ist auch genau die Strategie, die Helmut Jonen fährt: Ihn interessiert nicht, ob eine Aktie heute oder morgen fällt, weil ihn mehr interessiert, welche Dividende auch kommt. Die Börse selbst mit ihren Emotionen ist nur dann spannend, wenn sich tatsächlich am realen Wert eines Unternehmens etwas ändert. Natürlich kann ein Unternehmen auch die Dividenden kürzen, gerade erst hat Walgreen Boots das gemacht. Aber sofern genug diversifiziert ist…

Mittlerweile, vor allem durch Graham und Jonen, sehe ich auch Kursstürze bei meinen Investments gelassen. Oder, besser gesagt, ich warte sogar auf Kursstürze. Denn dann kann man momentan überbewertete Aktien günstiger kaufen. Vermögen wird in der Krise gemacht, so heißt es. Und der nächste Bärenmarkt kommt, denn es geht eben nicht nur ausschließlich nach oben. So haben einige Investoren ihren Cash-Anteil in den letzten Monaten erhöht.

Eines aber werde ich nie wieder machen: Mein Geld jemand anders anvertrauen. Und ich rate mittlerweile auch jedem Menschen davon ab, zu MLP oder sonstwem zu gehen. Stattdessen müssen wir dafür sorgen, dass mehr Menschen finanzielle Bildung bekommen.

Zum Schluss noch ein Goodie von YouTube, ein Film eines Vortrages von Benjamin Graham:

Keine Anlageberatung.

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