Mastodon und das Fediverse hatten viele Jahre ein Nischendasein gepflegt, bis sie durch Musks Twitter-Übernahme und den dadurch entstandenen Turbulenzen ins Rampenlicht gerückt wurden. Seitdem wächst die Mastodon-Gemeinde nicht wie ein Hockeystick, wie es im Investoren-Deutsch heißt, sondern wie eine Rakete. Das ist ein inneres Lachsbrötchen für diejenigen, die die Open Source-Fahne hochhalten. Aber vielleicht wird dies auch zum Fluch. Und das aus mehreren Gründen.
Im September 1993 wurde das vorher eher nerdige Beisammensein im Usenet jäh durch eine Flut von neuen Nutzern gestört. AOL hatte den Zugang zum Usenet geöffnet. Wurde vorher über Betriebssysteme gestritten, bestimmten nun Spam und Trolle die Tagesordnung. Der nicht enden wollende Zustrom von Nutzern, die sich nicht an die ihnen unbekannte Netiquette hielten, hat sich als Eternal September in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Zuvor war man „unter seinesgleichen“ mit den mehr oder minder bewusst vereinbarten Regeln, nun kamen neue soziale Gruppierungen hinzu, für die diese Inhalte nicht relevant und auch nicht bestimmt waren, ebenso umgekehrt, und so entstand ein „Context Collapse“. Da es keinen „Wächter“ des Usenets gab, keine zentrale Kontrollinstanz, konnten die selbstauferlegten Regeln nicht durchgesetzt werden, und nun war das Usenet nicht mehr zu gebrauchen (tolles Wortspiel, oder?).
Fast Forward zum November 2022. Nutzer fluten die Mastodon-Server. Auch hier sind den Neulingen die Regeln nicht klar, auch wenn diese bei der Registrierung auf einer Instanz gelesen werden sollten. Es tauchen bald die ersten Accounts auf, die viele auf Twitter nicht vermisst haben. Anders als bei twitter gibt es keine zentrale, bestimmende Instanz, aber ganz so schutzlos wie das Usenet ist Mastodon nicht. Zunächst einmal kann man selbst andere Accounts blockieren, wie bei twitter, sogar eine ganze Domain kann geblockt werden. Aber auch die Betreiber einer Mastodon-Instanz A können eine andere Mastodon-Instanz B blockieren. Und alle Accounts, die auf Mastodon-Instanz B sind sowie deren Inhalte, bleiben den Nutzern der Mastodon-Instanz A verborgen. (Soweit ich das sehen kann, ist das auf digitalcourage.social bisher nicht passiert, hier wird auch alles transparent dokumentiert). Im Prinzip kann sich eine Mastodon also „verteidigen“, anders als das Usenet damals.
Genau hier entsteht das erste Problem. Denn wer entscheidet eigentlich, was richtig und was falsch ist, welche Meinung ok ist und welche nicht? Auf twitter waren es von twitter bezahlte Menschen und implementierte Algorithmen, die versucht haben, nach definierten Regeln zu handeln, die von den twitter-Oberen abgesegnet wurden, sicherlich auch durch Rechtssprechung inspiriert. Wie schwierig so etwas ist, das habe ich 2007 erlebt, als ich noch bei der Suchmaschine Ask.com gearbeitet hatte und für den internationalen Index (international = alles außer USA) verantwortlich war. Aus Deutschland bekam ich böse Nachrichten, dass Hakenkreuze in der Bildersuche zu sehen seien. Bei dem Versuch, das zu unterbinden, sagten mir meine US-Kollegen, dass sie gegen das Gesetz verstoßen, wenn sie Hakenkreuze entfernen, weil dies zur freien Meinungsäußerung gehört. Eine technische Lösung, dass die Hakenkreuze nur in Deutschland nicht zu sehen sind, konnten wir nicht kurzfristig implementieren, zumal Hakenkreuze in einem historischen Kontext sehr wohl abgebildet sein dürfen. Aber was falsch und was richtig ist, das hing davon ab, in welche Richtung ich gerade über den Atlantik flog. Bitte nicht falsch verstehen, ich möchte keine links- oder rechtsradikalen oder Menschrechte verletzenden Inhalte in meinem Mastodon-Feed sehen, und ich finde es richtig, wenn diese blockiert werden. Ich kann sie selbst blockieren, aber eventuell werden andere Instanzen auch von meinem Instanz-Betreiber blockiert. Bei twitter wurden alle zentral gleich (schlecht oder gut) behandelt, hier hängt es von den Menschen ab, die eine Mastodon-Instanz betreiben, und wie diese das eigene Regelwerk interpretieren.
Und nun komme ich zu der zweiten großen Erkenntnis aus meiner US-Zeit: In den US-Zeitungen las ich Artikel über Deutschland, die ich in Deutschland nie gelesen hätte. Es wurden zum Teil Aspekte herausgepickt, die in unseren Zeitungen wenig prominent behandelt worden wären (und dafür andere nach meinem Geschmack zuwenig). Zurück in Deutschland habe ich das umgekehrt bei den deutschen Medien bezogen auf die US festgestellt. Auf keiner Seite wurden Unwahrheiten verbreitet. Die Schwerpunkte waren nur andere. In Deutschland klang es so, als wäre McDonalds in den USA auf Millionen verklagt worden, weil sich jemand heißen Kaffee auf die Hose gekippt hatte, und irgendein Richter hätte das in dem wahnsinnigen amerikanischen Rechtssystem zugelassen. Tatsächlich war die Geschichte anders, sie tauchte nur nicht so in deutschen Medien auf. In unserer Aufmerksamkeitsökonomie korrelieren Überschriften-Formulierungen mit Klicks und damit Geld. Wie kann ich so sicherstellen, dass ich auch andere Meinungen und Darstellungen lesen kann? Und wie funktioniert das in einem dezentral regulierten System, wo es im schlimmsten Fall von einem schlecht gelaunten Admin abhängt? Nein, ich will nicht irgendwelche Schwurbler-Infos lesen, warum Impfungen Teufelswerk seien, ich will auch nichts von einem Professor lesen, dessen andersdenkendes Paper eine Peer-Review nicht überlebt hat. Ein schönes Beispiel, wie so etwas funktionieren kann, zeigt der Spiegel mit der Veröffentlichung der Gegenrede des Chefredakteurs der Beliner Zeitung.
Aus dem schnellen Wachstum ergibt sich ein zweites Problem. twitter war mehr oder weniger organisch gewachsen, „atomic networks“, wie Andrew Chen sie nennen würde. Bei Mastodon ist es etwas anders, die twitter-Flüchtlinge versuchen, die vorher bekannten Gruppierungen wiederzufinden, aber nicht alle sind da, dafür andere. Man geht mit der Erwartung hin, dass alles so sein wird wie bei twitter, nur besser, doch dann fehlen liebgewonnene Accounts, und der Hook, ständig Likes und Kommentare zu kriegen, funktioniert auch nicht so wie bei twitter, wenn die Follower nicht so zahlreich gewechselt sind. Ein organisches Wachstum braucht Zeit. Und so wird zum Teil der Context Collapse schon jetzt deutlich, und er könnte Mastodon zum Nachteil gereichen. Daher interessiert mich auch weniger, wie viele Nutzer täglich neu auf einer Mastodon-Instanz sind, als vielmehr, wie gut sie sich vernetzt haben und interagieren. Denn genau das bringt die Nutzer dazu, wieder und wieder auf eine Plattforn zurück zu kommen. twitter hat dem nachgeholfen, indem Accounts vorgeschlagen und der Feed verändert wurde, genau das, was viele gehasst haben. Aber ohne dieses „Nachhelfen“ wird das Wachstum über die Nutzerzahlen hinaus schwieriger werden. Nein, ich will nicht den Mastodon-Feed verändern. Aber ich bezweifle, dass das Mastodon-Wachstum momentan „gesund“ ist und dass ein „unmanipulierter“ Feed das ist, was den „Normalnutzer“ wirklich zur Interaktion anregt. Eigentlich ein spannendes Thema für eine Forschungsarbeit 🙂