Der Tool-Wahn: Produktiver arbeiten mit Bordmitteln


 

Als Student hatte ich mal den Laptop meines Professors in der Hand, weil ich etwas konfigurieren sollte. Das war ungefähr 1998, und er hatte ein cooles Wallstreet-PowerBook von Apple. Ich war schockiert, was er installiert hatte. Nämlich so gut wie nichts. Lediglich das, was mit dem Betriebssystem installiert war, und das war nicht viel. Alle seine Texte schrieb er mit dem TextEdit, dem MacOS Editor. Kein WordPerfect (was damals noch populär war), kein Microsoft Word, nix. Damals hatte ich das nicht verstanden. Wie konnte er nicht weitere Programme installieren, die seine Arbeit erleichtern würden? Heute ist dieser Prof mein Vorbild, zumindest was sein simple Herangehensweise an seinen Computer betrifft.

Seitdem habe ich unzählige Tools gesehen, die helfen sollten, produktiver zu werden oder sich selbst und das eigene Wissen zu organisieren. Einige davon habe ich ausprobiert oder sogar länger genutzt. Kaum eines davon hat sich über längere Zeit bewährt, sei es, weil die Entwickler aufgrund nachlassender Nachfrage aufgegeben hatten wie bei Life Balance, sei es, weil eine Applikation von neueren Technologien überholt wurde wie Apples HyperCard durch das World Wide Web oder weil der Käufer eines Startup-Produkts wie Wunderlist lieber sein eigenes Produkt Microsoft „To Do“ ersetzen wollte und die gekaufte Software einfach dicht machte. In den 2000er Jahren waren die Tools der Omni Group, OmniFocus, OmniOutliner etc. sowie Evernote der heiße Scheiß, heute ist es Notion und dergleichen.

Je mehr Tools ich gesehen habe, desto weniger glaube ich an sie. Beziehungsweise, ich glaube nicht mehr daran, dass es eine App für alles gibt oder es eine App für alles geben sollte. Kompetenz ist wichtiger ist als ein Tool. Ein Tool kann Inkompetenz nicht kompensieren. Es ist fast egal, welches Tool man nutzt, wenn man weiß, was man tut. Umgekehrt funktioniert das nicht. A fool with a tool is still a fool.

So wie man beim Digitalen Minimalismus hinterfragen sollte, welchen Mehrwert eine neue App bringen soll, kann man auch einfach die Frage stellen, ob ein bereits mit dem Betriebssystem installiertes Programm den Job nicht auch erledigen kann. So ist Apples Erinnerungen mittlerweile ganz passabel und synchronisiert sich wie Apple Notizen auch auf allen Devices. Ich habe keine Ahnung von Microsoft Windows, vielleicht funktioniert das da alles genau so gut. Das Google-Universum bietet ebenso eine Geräte-übergreifende Experience mit allen möglichen Tools. Natürlich kann und sollte man sich auch fragen, ob es sinnvoll ist, seine Daten irgendeiner Firma zu überlassen. Wer es ganz kompliziert will, findet auf Linux-Systemen auch jede Menge Bordmittel.

Der Ansatz, so gut wie nur mit Bordmitteln zu arbeiten, hat viele Vorteile. Kein FOMO. Einfach alles ignorieren, was einem als der neueste Produktivitätsgewinn verkauft wird. Kein Zumüllen der Festplatte mehr. Anstatt produktiv zu prokrastinieren, indem man Tools sucht und lernt, um die anstehende Arbeit schneller bewältigen zu können, einfach die Arbeit erledigen, die ansteht. Die paar Software-Tools, die ich nun zusätzlich habe, kann ich an zwei Händen abzählen, z.B. R, RStudio, TexShop, Ableton Live… und Letzteres hätte ich vielleicht auch mit GarageBand erledigen können. Mein Dock ist unverändert seit der Erstinstallation des Rechners.

Im nächsten Schritt geht es um die Organisation der eigenen Dateien. Dazu zu einem späteren Zeitpunkt mehr.

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